Der Januar ist beladen mit Trauer und Gedenken an die NS-Zeit: die Machtergreifung Hitlers, die Pauschal-Verurteilung aller Juden, die Erinnerung an den Holocaust anlässlich des Befreiungstages des Konzentrationslagers Auschwitz. Für die Niederländerin Eva Weyl gibt es im Januar ein weiteres Datum, das ihr Leben für immer prägt: Am 28. Januar 1942 kam die damals 6-Jährige mit ihrer jüdischen Familie ins Lager im niederländischen Westerbork. Über 100 000 Menschen sind von dort in ein Konzentrationslager deportiert und ermordet worden. Nur wenige überlebten – Weyl ist eine von ihnen. Wie sie die Zeit im Lager erlebt hat und wie ihre Familie nur durch ganz viel Glück überlebte, hat die 88-Jährige jetzt über 100 Schülerinnen und Schüler der Höheren Berufsfachschule, der Fachoberschule und der Beruflichen Gymnasien erzählt. Ihr Bericht war ergreifend, schockierend, aber auch durchsetzt mit einer Prise Humor und vielen persönlichen Einblicken. „Wir fühlen uns geehrt, dass Frau Weyl seit Jahren unseren Schülerinnen und Schülern von ihren Erlebnissen berichtet. Es ist so wichtig, dass wir die deutsche Geschichte nicht vergessen und Verantwortung für die Zukunft übernehmen“, betont Christoph Zabel, Fachschaftsleiter Politik/Gesellschaftslehre.
Die jüdische Familie Weyl stammt aus Deutschland: Der Großvater kämpfte im 1. Weltkrieg; die Eltern besaßen ein großes Warenhaus in der Klever Innenstadt (heute Galeria). „Schleichend wurden wir ausgeschlossen vom Leben. Es gab zum Beispiel Plakate, die dazu aufforderten, dass man nicht bei Juden kaufen solle. Mobbing ist der Anfang des Bösen“, meint Weyl. Innerhalb weniger Monate veränderte sich die Stimmung; die Familie musste in die Niederlande flüchten und kam schließlich nur mit dem Nötigsten und ein paar versteckter Brillanten im Knopfloch von Weyls Wintermantel ins Durchgangslager nach Westerbork. „Ich hatte Angst, aber ich wurde gut behütet. Meine Mutter sagte immer: Alles wird gut.“ Wie schlimm die Lage wirklich war, hat Weyl erst später in Gesprächen mit ihrem Vater und in Original-Quellen aus der Gedenkstätte Westerbork erfahren.
Beklemmend ist die Schilderung der Scheinwelt, die in Westerbork erschaffen wurde, damit das nicht nur die kleine Eva Weyl glaubte: Es gab zwei Schulen, einen Spielplatz, genug Essen, ein großes Krankenhaus, Theateraufführungen und Musik. „Das Lager war ein großes Paradoxon. Die meisten ließen sich täuschen und waren skeptisch: Wieso sollte man hier so gut behandelt werden, wenn man 2000 Kilometer weiter östlich ermordet werden sollte? Das konnte man nicht glauben.“ Dennoch war die Angst ständig zugegen; nachts wurden tausend zufällig ausgeloste Personen aus ihren Baracken geholt und mit dem Zug nach Osten transportiert worden – ins KZ Auschwitz. Zweimal stand die Familie Weyl auf der Liste. Zweimal entkamen sie nur durch Glück der Deportation. Dieses Glück gibt Weyl seit vielen Jahren zurück, indem sie sich als Zeitzeugin engagiert und zahlreiche Schulen besucht.
Nach ihrem Bericht konnten die Schülerinnen und Schüler Weyl noch Fragen stellen. Dabei ging es um die Weyls Leben nach der NS-Zeit, ihr Verhältnis zu ihren Eltern und ihr Treffen mit den Nachkommen des damaligen Lagerkommandanten in Westerbork, der ihrer Familie so viel Leid und unzählige Menschen getäuscht und deportiert hat. Trotz Mahnung von Freunden traf sie vor rund zehn Jahren die Tochter des damaligen Lagerkommandanten persönlich. „Natürlich war ich aufgeregt. Aber was konnten sie für die Gräueltaten ihres Vaters? Nichts! Wir waren beide seine Opfer.“ So einfach ist das für Weyl, die sich diesen Mut auch von den Jugendlichen wünscht: „Ihr seid nicht verantwortlich für die Vergangenheit, aber für die Zukunft. Lasst eure Herzen sprechen und verurteilt niemanden, bevor ihr ihn nicht kennengelernt habt!“ Die Zeitzeugin forderte die Schülerinnen und Schüler zum Schluss ihres Vortrags zudem auf, ihre Zweitzeugen zu werden: Erzählt über meine Erlebnisse, damit nie vergessen wird, wozu Hass, Neid, Dummheit und Intoleranz führen können!“
Text und Fotos von Natascha Verbücheln