Die Atmosphäre im abgedunkelten Raum ist bedrückend: Draußen ist ein LKW zu hören, während im Radio Thomas Mann eine Rede hält. Der Dia-Projektor klackert; auf dem einfachen Esstisch steht ein alter Kerzenständer neben einer Kreidetafel. Die acht Jugendlichen im Raum öffnen emsig Schränke, blättern in Büchern, tippen auf der Schreibmaschine und heben den Tisch an. Nach neun Minuten haben zwei Jungen ein Kabel verbunden, mit dem das Wählscheibentelefon aktiviert werden kann. Plötzlich klingelt es. Die Stimme des Nachbarn am Telefon ist laut und eindringlich: „So etwas Mutiges! Ihr müsst mir versprechen, dass ihr die Flugblätter verteilt. Dann helfe ich euch auch, sie zu finden. Die Menschen müssen davon erfahren! Sucht den Koffer; dort ist immer alles Wichtige versteckt.“ Die Jugendlichen finden daraufhin den Koffer, entschlüsseln den Code für das Zahlenschloss, übersetzen die Geheimschrift der Texte im Koffer mit der manipulierten Schreibmaschine und kommen den Flugblättern immer näher. Doch die Zeit tickt. Nach 56 Minuten öffnet sich endlich die Truhe; die Schülerinnen und Schüler halten stolz die Flugblätter in der Hand. Spielleiter Matthias Hecking, einer der beiden Erfinder des Escape-Rooms, stellt den Schülerinnen und Schüler die Frage, ob sie die Predigten verbreiten und sich hiermit selbst in Gefahr bringen oder die Predigten lieber zum Selbstschutz vernichten sollten.
Denn diese spielerische Zeitreise hat einen düsteren Hintergrund: Nach 1933 wurden rund 400 000 Menschen zwangssterilisiert, Tausende davon auch verhaftet und ermordet, weil sie körperlich behindert sind oder zum Beispiel an einer psychischen Krankheit leiden. Legitimiert wurde dieses so genannte Euthanasie-Programm mit dem Argument, dass diese Menschen nur eine Last sind und dem Staat viel Geld kosten. Kardinal van Galen – der mutige Löwe zu Münster – prangerte im August 1941 dies in einer Predigt öffentlich an. Die Predigt wurde mittels Flugblätter verbreitet, was für deutliche Unruhe in der Bevölkerung sorgte. Genau hier knüpft die Geschichte des Escape-Rooms an: Die Schülerinnen und Schüler müssen diese Flugblätter in einem Arbeitszimmer eines Gehilfen des Kardinals finden, bevor die Polizei diese beschlagnahmt. Somit bietet dieses Unterrichtserlebnis verschiedenste Anknüpfungspunkte im Unterricht: Wer war eigentlich dieser Kardinal van Galen? Warum wurden psychische kranke Menschen in der NS-Zeit verfolgt? Wie weit geht individuelle und gesellschaftliche Zivilcourage? Jan Feldmann, Mitglied der erweiterten Schulleitung am Berufskolleg, hat das Projekt initiiert und zusammen mit Schulsozialarbeiterin Elke Schlaghecken für 15 Klassen organisiert: „Gerade in der heutigen Zeit, die von Krisen und Kriegen geprägt ist, ist es von besonderer Bedeutung, immer wieder auf einen menschenwürdigen Umgang miteinander zu verweisen. Das Spiel im Escape Room setzt sich hier mit einem der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte auseinander und erzwingt einen Transfer auf heutige Zeiten, etwas, was durch reine Schulbuchlektüre kaum erfahrbar gemacht werden kann. Deshalb war es uns ein Herzensanliegen, nachdem vor vier Jahren die Abteilung Sozialwesen in Bedburg-Hau an zwei Tagen in den Genuss des Spiels kam, dass es nun fünf Tage Klassen aus verschiedenen Bildungsgängen und Abteilungen zugänglich gemacht worden ist, um ein schulweites Projekt zu initiieren.” Ermöglicht wurde dieses Erlebnis durch die finanzielle Unterstützung des Landesprogramms „Gemeinsam MehrWert“.
Die Wanderausstellung „Die nationalsozialistischen ‚Euthanasie‘-Morde“ der Deutschen Forschungsgemeinschaft, betreut durch die Stiftung Topographie, ergänzt die Erfahrungen aus dem Escape-Room, indem sie die Grausamkeit des Euthanasie-Programms an Einzelschicksalen deutlich werden lässt: Mary, die eine Frau geküsst hat; Anna, der das Lernen schwerfällt; ein Säugling mit vermeintlich schlechten Erbanlagen; ein tauber Mann mit künstlerischer Ader; ein jüdischer Patient– sie alle wurden verfolgt, gedemütigt und in einer Gaskammer ermordet.
Die Ausstellung ist noch bis Freitag, 10. November, im Raum 1.0.90. Wer Interesse an einem Besuch hat, kann sich bei per Mail bei elke.schlaghecken@ melden. berufskolleg-kleve.de
Text und Fotos von Natascha Verbücheln