Wie ein gesunder Körper klingt

Für zwei Wochen war die interaktive Ausstellung „Klang meines Körpers“ im Berufskolleg Kleve aufgebaut. Zwei Schulsozialarbeiterinnen haben daran mit insgesamt neun Klassen das Thema Essstörungen aufgearbeitet und Strategien entwickelt, die das Selbstwertgefühl steigern.

Zwei Schülerinnen des Beruflichen Gymnasiums beschäftigen sich mit der Innenwelt einem von einer Essstörung betroffenem Mädchen.

Zwei Schülerinnen des Beruflichen Gymnasiums beschäftigen sich mit der Innenwelt einem von einer Essstörung betroffenem Mädchen.

„Ich hatte im Grunde so viel, doch mir fehlte in Wirklichkeit unheimlich viel, was man mit Geld nicht erwerben kann. Liebe, Zärtlichkeit und Verständnis für meine Trauer“ – und ein gesundes Verhältnis zum Essen. Die beiden Schülerinnen der Unterstufe des Beruflichen Gymnasiums Freizeitsportleiter/in, die auf Sitzsäcken vor einer Infotafel sitzen, sind in dem Statement einer an Bulimie erkrankten Frau vertieft und diskutieren über die Bedeutung der Aussage. „Ich kann das gut nachempfinden. Geld macht nicht glücklich, vor allem nicht, wenn man etwas Schlimmes erlebt hat oder ein geliebter Mensch gestorben ist, wie es bei dieser Person wahrscheinlich war. Dann spielt das alles keine Rolle mehr; man fällt in ein Loch“, meint eine Schülerin, die am Projekttag der Schulsozialarbeit teilnimmt. Im Mittelpunkt der Ausstellung „Klang meines Körpers“ der Werkstatt Lebenshunger e.V. stehen betroffene Jugendliche, die mit Texten, Collagen und Liedern selbst zu Wort kommen. Es geht um die Unzufriedenheit mit dem eigenen Körper und die Angst zu versagen, aber auch um Sehnsüchte und darum, was Jugendliche stark macht.
In einem ersten Schritt haben sich die Schülerinnen und Schüler zusammen mit den Schulsozialarbeiterinnen Natalia Knaub und Elke Schlaghecken Gedanken darüber gemacht, wie eine Essstörung entsteht und wie sie sich äußert. Denn eine Essstörung ist eine komplexe Krankheit, die sich in verschiedenen Formen ausdrückt: wenn jemand sein Essverhalten stark einschränkt, genau kontrolliert oder die Kontrolle über das Essverhalten verliert. Gründe für eine Essstörung sind vielfältig. „Es ist meist ein Mix aus privaten, persönlichen und gesellschaftlichen Problemen, die zu einer Essstörung führen“, sagt Schulsozialarbeiterin Natalia Knaub. Oft wird sie von anderen psychischen Erkrankungen oder tiefer liegenden seelischen Problemen begleitet. Die Schülerinnen und Schüler des Beruflichen Gymnasiums nennen Trennungen der Eltern, schulischer Druck, Ärger im Freundeskreis, Mobbing und Leistungssport als mögliche Auslöser. Ein Faktor wird von allen Klassen gleichermaßen genannt: „Social Media vermittelt uns das Gefühl, dass man anders sein muss. Wir bekommen perfekte Vorbilder gezeigt, denen man gerecht werden will“, beschreibt es eine Schülerin. Das eigene Selbstvertrauen schwindet; das Gefühl, dass man selbst fehlerhaft und mit Makeln behaftet ist, kann zermürbend wirken, zu einer falschen Körperwahrnehmung und dauerhaft zu einem gestörten Essverhalten führen, um dem Schönheitsideal zu entsprechen. Laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung erkranken von 1.000 Mädchen im Laufe ihres Lebens durchschnittlich etwa 28 an einer Binge-Eating-Störung, 19 an Bulimie und 14 an Magersucht. Bei Jungen sind die Zahlen geringer, aber auch hier gibt es viele Betroffene. Durch die Corona-Pandemie, so schätzen Expertinnen und Experten, haben die Essstörungen in Deutschland zugenommen.
Die Schülerinnen und Schüler haben mithilfe der Ausstellung fünf junge Frauen und einen Mann kennengelernt, die von einer Essenstörung betroffen waren und mithilfe einer Musiktherapie einen Weg aus der Krankheit gesucht haben. Auf Infotafeln werden die Ursachen, die Anzeichen, die Hintergründe und Auswege aus der Erkrankung auf kreative Weise dargestellt; in kurzen Videosequenzen schildern die Betroffenen ihr Innenleben; Schatzkisten enthalten persönliche Gegenstände, die bei der Therapie hilfreich waren oder Lösungsstrategien symbolisieren: eine Ballerina, ein Foto von einem Hund, eine Tube Sonnenmilch, ein Notizbuch. Letzteres ist von David (Name in der Ausstellung), der zehn Jahre lang an Magersucht litt, bis er Hilfe bekam: „Wenn man den ganzen Tag über das Nicht-Essen nachdenkt, muss man nicht über die eigentlichen Probleme grübeln. Aber irgendwann läuft man voll mit den Sorgen, die man mit sich herumträgt. Mir hat geholfen, sie aufzuschreiben. So muss ich meiner Familie nichts preisgeben, aber mein Kopf wird frei. Das war der erste Schritt: sich einzugestehen, dass etwas nicht stimmt, und darüber reden lernen.“ Gerade die Statements der Betroffenen wirken bei den Schülerinnen und Schülern nach und erzeugen eine hohe Aufmerksamkeit. Nach und nach entdecken sie bei den anderen betroffenen Frauen der Ausstellung weitere Lösungsstrategien wie die Entwicklung kreativer Hobbys, Entspannungstechniken zum Stressabbau, das Erfüllen eigener Wünsche oder Gespräche und Erlebnisse mit Freunden.
Zum Abschluss des Projekttags haben die Schülerinnen und Schüler für sich selbst eigene Talente, Stärken oder positive Einflussfaktoren formuliert, um ihr Selbstwertgefühl zu steigern. In verschiedenen Übungen haben sie sich dazu mit den eigenen Bedürfnissen und Sehnsüchten auseinandergesetzt und überlegen, was ihnen im Leben Halt gibt. „Das Projekt spricht junge Menschen insbesondere auf der persönlichen Ebene an; es geht um individuelle Wünsche, Sehnsüchte und Bedürfnisse. Ich beobachtete, dass viele zum Nachdenken kamen und die Erzählungen über die persönlichen Geschichten der betroffenen Personen bei den Jugendlichen tief unter die Haut gingen. Dabei haben auch die Musik und die Lieder beigetragen, die den Betroffenen in schweren Zeiten Mut gemacht hat. Das fanden die Schülerinnen und Schüler toll“, resümiert Knaub. 

Weitere Informationen und Beratungsstellen zum Thema Essstörungen finden sich unter www.bzga-essstoerungen.de. Bei Verdacht auf eine Essstörung bei Mitschülerinnen bzw. Mitschülern, bei einem selbst oder bei den eigenen Kindern kann auch das Team der Schulsozialarbeit unter schulsozialarbeit@remove-this.berufskolleg-kleve.de für ein vertrauliches Gespräch kontaktiert werden.

Text und Fotos von Natascha Verbücheln